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Perspektivwechsel

Stell dir vor,
Du befindest dich im Jahre 1944. 
Der 2. Weltkrieg tobt seit circa 5 Jahren. 
Es ist Sommer. Genauer: Eine laue Sommernacht. 

Durch die laue Sommernacht fliegst du mit deinem Flugzeug,
Immer geradeaus durch die schwarze Nacht.
Du hast das hier schon sehr oft gemacht.
Es ist immer das Gleiche: 
Du fliegst durch die endlose Stille, 
Dann drückst du einen Knopf und fliegst zurück.
Während deine Ladung zu Boden fällt, 
freust du dich über jeden Meter, 
Den sie sich von dir entfernt.
Ohne deine Ladung ist das Fliegen viel angenehmer,
Auch wenn nun eine andere Last auf deinen Schultern sitzt.
Die Last eines einfachen Knopfdruckes.
Du tötest auf Knopfdruck. 
Doch das versuchst du zu vergessen.
Während des Hinflugs versuchst du nicht nachzudenken.
Bevor du den Knopf drückst, denkst du an alles, 
Und danach an gar nichts mehr. 
Du bist ein Pilot und deine Ladung der Tod. 

Durch die laue Sommernacht läufst du,
Weil du mal wieder nicht schlafen kannst. 
Die Last deiner Gedanken verhindert, dass du zur Ruhe kommst. 
Du sorgst dich um alles und jeden, nur nicht um dich. 
Du arbeitest den ganzen Tag und kümmerst dich dann um deine Kinder.
Du hast seit Monaten nichts von deinem Mann gehört, 
Nichts von deinem Bruder gehört oder sonst jemandem, 
Den du kennst und der jetzt an der Front ist. 
Du hast Angst, doch zeigst es nicht. 
Du läufst durch die laue Sommernacht, 
Als es zu regnen beginnt. 
Doch dich trifft nicht wie erwartet das kühle Nass,
Sondern eine Hitzewelle und alles wird schwarz. 
Du bist ein Zivilist, eine Mutter und dein Schicksal der Tod. 

Es ist eine laue Sommernacht und die Bomben fallen auf die schlafende Stadt. 
Obwohl hier schon lange keiner mehr das Licht angemacht hat. 
Kein Alarm, nur Stille als die erste Bombe sacht, 
Den Boden berührt und ein Inferno entfacht. 
Ein Donnern und Krachen, ein Tosen und Knacken. 
Häuser zerfallen in Trümmerpuzzle, begraben Nachbarn und Straßen.

Und so zerfällt auch dein Haus.
Doch das stört dich nicht. Nicht mehr. 
Du warst schon lange nicht mehr zu Hause. 
Du bist jetzt an einem anderen Ort. 
Doch wer weiß wie lange, niemand ist lange an diesem Ort. 
An diesem Ort versuchst du irgendwie,
Zwischen all den anderen zur Ruhe zu kommen. 
Dein schmerzender Körper und der nagende Hunger hindern dich am schlafen. 
Und das seit mehreren Wochen. 
Du arbeitest den ganzen Tag. Machst irgendeinen sinnlosen Kram: 
Schleppst Steine von A nach B und dann wieder zurück, 
Um Schläge zu kassieren, weil du zu langsam bist.
Um dich wüten Krankheiten, Willkür, Gewalt und vor allem Angst. 
Hier hat man vor allem Angst. 
Hier hat man vor Allem Angst.
Doch solltest du froh sein, denn immerhin bist du noch am Leben.
Ein anderer zum Beispiel wurde heute totgetreten. 
Am Leben… kann man das am Leben nennen? 
Du fühlst dich nicht lebendig. 
Du fühlst dich nicht mehr wie du selbst. 
Du bist ein Schatten deiner selbst und,
Schon bald wirst du noch weniger als ein Schatten sein.
Du bist ein Häftling in einem Konzentrationslager und deine Zukunft der Tod. 

In der lauen Sommernacht polierst du deine Stiefel. 
Wischst sorgfältig das Blut von deiner Schuhspitze, 
Welches dort klebt, weil du mal wieder jemanden totgetreten hast. 
Aber diesmal hat er es wirklich verdient. 
Versuchst du dir einzureden. 
Er hat seine völlig sinnlose Arbeit zu langsam verrichtet. 
Was hat er da anderes verdient als den Tod.
Siehst du, es klappt, wie jedes Mal.
Und so wirst du auch morgen wieder jemanden tottreten,
Oder zu Tode prügeln oder erschießen, wer weiß, 
Das entscheidest du spontan. 
Je nachdem, was er verdient hat.
Aber nur, wenn er es verdient hat. 
Du tötest nur, wenn jemand es verdient hat und nicht willkürlich. 
Logisch, du bist nicht gewalttätig.
Du bist Aufseher in einem Konzentrationslager und deine Erfüllung der Tod. 

Durch die laue Sommernacht marschierst du,
Mit einer Waffe in der Hand.
Du und die anderen sind auf dem Weg zum nächsten Gefecht,
Obwohl dir das letzte noch in den Ohren klingt.
Du versuchst, dich irgendwie abzulenken, um nicht an das zu denken,
was du gesehen hast und erst recht nicht an das, was du getan hast.
Stattdessen fragst du dich mal wieder, warum du das hier überhaupt machst.
Im monotonen Rhythmus deiner Schritte kreisen deine Gedanken um diese Frage.
Links. Rechts. Links. Rechts. Warum? Warum? Warum? Warum?
Plötzlich stoppt das Kreisen und du sinkst zu Boden.
Ein Kugel durchbohrte deine Uniform und das war’s.
Du bist Soldat und dein Risiko der Tod. 

In der lauen Sommernacht marschierst auch du,
Mit deiner Waffe in der Hand,
In einem ähnlich monotonen Rhythmus.
Doch du weißt genau, warum du das hier tust.
Du bist überzeugt davon, dass du genau das Richtige tust.
Man hat dir einen Feind gegeben und den willst du jetzt vernichten.
Koste es, was wolle. Du bist bereit, alles zu geben.
Und so schießt du bereitwillig auf jeden,
Der als Feind markiert wurde.
Lässt keinen am Leben, der nicht deinesgleichen ist. 
Auch du bist Soldat und deine Mission der Tod. 

In der lauen Sommernacht bist du mal wieder auf einer Kundgebung.
Du warst unzufrieden, bis du das hier gefunden hast.
Du fühlst dich gut, wenn du mit anderen deinen rechten Arm gen Himmel strecken,
Und aus vollem Halse Hassparolen brüllen kannst.
Deshalb ist es für dich nicht nur selbstverständlich,
Sondern auch eine Ehre, für dein Land in den Krieg zu ziehen.
Unzureichend ausgerüstet bist du,
Ohne Ausbildung und mit deinen jungen Jahren,
Ein weiterer sinnloser Toter in einem sinnlosen Krieg,
Der für dich jedoch dank deiner Überzeugung einen Sinn hat.
Du bist ein Nazi und deine Überzeugung dein Tod. 

In der lauen Sommernacht grübelst du, ob du das Richtige machst.
Seit der Krieg begonnen hat, machst du das jede Nacht,
Versinkst in unruhige Träume,
Die dich schweißgebadet immer wieder aufwachen lassen,
Die dafür sorgen, dass du Angst hast, deine Augen zuzumachen.
Du hoffst, dass du das Richtige tust.
Aber wenn es so wäre, dann würde es sich nicht so falsch anfühlen.
Das Richtige? Was soll denn das Richtige in diesen Zeiten sein?
Kann es überhaupt noch ein Richtig und Falsch geben?
Weil du keine Antwort auf diese Frage findest,
Kommst du in der lauen Sommernacht zu dem Schluss,
Dass du das nicht mehr aushältst und mit zittriger Hand beendest du es.
Du begehst Selbstmord und dein Ausweg der Tod.

In der lauen Sommernacht siehst du, wie dein Dorf in Flammen aufgeht.
Siehst, wie sie alles nehmen, was zu gebrauchen ist,
Siehst, wie sie dich und die anderen der Dunkelheit überlassen.
Ihr wart froh, als sie euer Dorf besetzten,
Befreit von dem Einfluss der roten Plage,
Blicktet ihr hoffnungsvoll auf eine Zukunft in Freiheit,
Doch was sie nun entfachen,
Ist weit schlimmer als das, was ihr vorher ertragen musstet.
Und so stehst du hier und blickst in die Flammen,
Die genüsslich und voller Hohn all dein Eigentum verzehren.
Während du noch dort stehst, werden die anderen schon zusammengetrieben.
In der Ferne siehst du Züge stehen.
Du lebst in einer Besatzungszone und dein Besatzer dein Tod.

In der lauen Sommernacht arbeitest du mal wieder Überstunden.
Feierabend gibt es seit langem nicht.
Du bist immer auf Bereitschaft.
Nach viel Anstrengung hast du es geschafft, deinen Traumjob zu bekommen.
Der nun einem Alptraum gleicht.
Das Krankenhaus ist überfüllt.
Selbst die Flure sind mit Patienten vollgestellt.
Ihr habt kein Material, keine Arznei.
Du bist den ganzen Tag dabei,
Zerbombte Menschen wieder zusammenzuflicken.
Den meisten kannst du kaum mehr helfen.
Außer ihnen ein Grab zu besorgen.
Du bist eine Krankenschwester und dein Kollege der Tod. 

In der lauen Sommernacht marschierst du mit deinen 15 Jahren,
In deiner viel zu großen Uniform Richtung Front.
Du und die Anderen, ihr seid die letzte Hoffnung.
Zumindest sagte man euch das.
Eine schlecht ausgebildete Hoffnung,
Die in einem längst verlorenen Krieg eine Wende herbeiführen soll,
Die den Sieg erringen soll.
Doch daran glauben tut keiner.
Quasi gestern saßt du noch in der Schule.
Du träumtest davon, da endlich rauszukommen.
Doch so hattest du dir das nicht vorgestellt.
Du weißt, dass du eigentlich nur Kanonenfutter bist,
Auch wenn sie versuchen, dir etwas anderes einzureden,
Auch wenn du versuchst, dir selbst etwas anderes einzureden.
Du bist ein Kind und auch Soldat, dein Abschluss der Tod.

In der lauen Sommernacht hast du die Fäden in der Hand,
Verschiebst längst gefallene Truppen über längst überholte Landkarten.
Du hast schon lange den Überblick und vor allem den Bezug verloren.
Weißt schon lange nicht mehr, was du hier eigentlich machst.
Du sitzt in deinem warmen Büro,
Während andere auf deinen Befehl an der Front zu Grunde gehen.
Du weißt nicht, wie viele es schon waren.
Du hast nie begonnen zu zählen.
Um dein Gewissen nicht zu belasten. 
Du bist ein Schreibtischtäter und dein Befehl der Tod. 

In der lauen Sommernacht bist du der Gehasste.
Der, der irgendetwas falsch gemacht hat. 

Der, der irgendetwas hat, was die anderen wollen.
Der, der anders als die anderen ist.
Du hast kein Gesicht, nur eine Maske,
Die sich durch Hass erschaffen lässt,
Die sich verändert, wenn man die Seite wechselt.
Die versteckt, dass du nicht ein anderer, sondern Mensch bist.
In der lauen Sommernacht gibt es nicht nur einen Feind.
Setzt man dir einen neue Maske auf,
Dann hast du ein neues Gesicht,
Dann gibt es einen neuen Feind,
Und die Menschen beginnen zu hassen.
Du bist der Auslöser.
Du bist der Grund.
Du bist das Ende, gehst du, geht auch der Krieg.
Du bist der Feind, dein Tod das Ende.

In der lauen Sommernacht bist du an allen Orten zugleich.
Du bist überall Gast, doch selten willkommen.
Du bist eine einsame Gestalt, die zwar oft Begleitung, aber keine Freunde hat.
Du hast noch nie mit jemandem gesprochen,
Denn sie sind stumm, wenn sie dir begegnen.
Seit das hier begann, hast du nicht geschlafen,
Denn es gab keine Sekunde,
In der mal niemand ein Stück mit dir gehen musste.
Denn im Krieg bist du allgegenwärtig.
Du bist was alle verbindet.
Du bist das Ende.
Du bist der Tod. 

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